Tibet-Encyclopaedia

 

Rote Annalen (Deb-ther dmar-po)

Das Rote Annalen (Deb-ther dmar-po oder Hu-lan deb-ther) oder „Rotes Buch“ genannte tibetische Geschichtswerk ist eine um die Mitte des 14. Jahrhunderts entstandene Darstellung der Geschichte der den Tibetern bekannten Welt aus dem Blickwinkel eines Fürsten der zentraltibetischen Region Tshel Gungthang (Tshal Gung-thang).

Zu den Hauptländern dieser Welt zählten Indien, die Mongolei, das Tanguten-Reich, China und Tibet. Letzterem ist der größere Teil dieses Geschichtswerkes gewidmet.
Wegen der Einbettung der Geschichte Tibets in die Darstellung einer Geschichte der damals bekannten Welt markiert dieses Werk einen Umbruch in der Geschichtsschreibung des tibetischen Mittelalters.

Inhaltsverzeichnis

1. Der Autor
2. Inhalt
3. Bedeutung als Geschichtswerk
4. Literatur

1. Der Autor

Der Autor der Roten Annalen, der Tshelpa Künga Dorje (Tshal-pa Kun-dga' rdo-rje; 1309–1364), war der 10. weltliche Herrscher bzw. Regent (dpon-sa) der zentraltibetischen Region Tshel Gungthang (Tshal gung-thang), die sich schon vor seiner Zeit zu einer der 13 Zehntausenschaften Tibets unter der Herrschaft Sakyas entwickelt hatte. Er war ein Nachfahre der bedeutenden mGar-Adelsfamilie, deren Angehörige schon zur Zeit der Yarlung-Dynastie bedeutende Ministerämter innehatten.

Tshelpa Künga Dorje wurde 1309 als Sohn des Mönlam Dorje (sMon-lam rdo-rje), des 9. Regenten von Tshel Gungthang, geboren. 1323, in seinem 15. Lebensjahr, wurde er als Regent (khri-dpon) der Zehntausendschaft Tshel Gunthang inthronisiert. Ein Jahr später, 1324, reiste er nach China, um sich von Kaiser Yesun Timur Khan der Yuan-Dynastie in seinem Amt bestätigen zu lassen.

Zu seinen wichtigsten Aktivitäten gehört die Kompilation einer neuen Ausgabe des buddhistischen Kanons (bKa'-'gyur), die unter der Bezeichnung Tshelpa Kanjur bekannt wurde. Diese Werksammlung, die unter der Beteiligung des berühmten Gelehrten Butön Rinchen Drub (Bu-ston Rin-chen grub) erstellt wurde, umfasste 260 in Gold- und Silberschrift geschriebene Bände.

Im Jahre 1346 begann Tshelpa Künga Dorje mit der Abfassung des Geschichtswerkes Rote Annalen, welchem er selbst nicht den tibetischen Titel Deb-ther dmar-po, sondern den mongolischen Titel Hu-lan deb-ther gab. 1352 wurde seine Zehntausendschaft Tshel Gungthang von dem Phagmo-Drupa-Herrscher Changchub Gyeltshen (Byang-chub rgyal-mtshan) erobert. Damit wurde die Regentschaft von Tshelpa Künga Dorje beendet. Er dankte ab und trat in den Mönchsstand ein, wobei er den neuen Namen Gewe Lodrö (dGe-ba'i blo-gros) annahm.
Letztendlich wurden die Roten Annalen erst im Jahre 1363 fertig gestellt.

Zu den wichtigen literarischen Werken des Tshelpa Künga Dorje alias Gewe Lodrö zählen außerdem die Weißen Annalen (Deb-ther dkar-po), ein Katalog des Tshelpa Kanjur.

2. Inhalt

Der erste Hauptteil der Roten Annalen beginnt mit einer Darstellung der Genealogie mythischer indischer Cakravartin-Könige, an die sich die Darstellung der Lebensgeschichte des historischen Buddha anschließt. Nach Betrachtungen über die Weiterüberlieferung der buddhistischen Lehre findet sich eine Genealogie historischer indischer Könige. In den anschließenden Erörterungen der Geschichte Chinas wird ein eigenes umfangreiches Kapitel den politischen Beziehungen zwischen China und Tibet während der Tang-Dynastie gewidmet.

Auf die Darstellung der Geschichte der Herrscher des Tanguten-Reiches und der Mongolen folgt die Darstellung der Geschichte der tibetischen Yarlung-Dynastie. Der erste Hauptteil endet mit einer Darstellung der Geschichte der Thronhalter von Sakya (Sa-skya khri-´dzin) und deren Regenten (dpon-chen) während der Zeit der Yuan-Dynastie.

Der zweite weitaus umfangreichere Teil der Roten Annalen beschäftigt sich mit der Ausbreitung des Buddhismus in Tibet nach der Wende zum zweiten Jahrtausend n. Chr. und behandelt im Wesentlichen die Schulen der Kadampa (bKa´-gdams-pa) und der Kagyüpa (bKa´-brgyud-pa).

3. Bedeutung als Geschichtswerk

Die Roten Annalen gelten als bedeutendes historisches Werk, das die Entstehung weiterer historischer Werke beeinflusste. Im Jahr 1538 schrieb Penchen Sönam Dragpa (pan-chen bSod-nams grags-pa; 1478–1554), der 15. Abt von Ganden (dGa´-ldan), die Neuen Roten Annalen, die als Fortsetzung der Roten Annalen konzipiert waren und zum Teil auch die Geschichte Chinas, Indiens und Śambhalas behandeln.

4. Literatur

Dan Martin, Yael Bentor (Hg.): Tibetan Histories: A Bibliography of Tibetan-Language Historical Works (London, Serindia 1997), ISBN 0906026431.
Karl-Heinz Everding: Der Gung thang dkar chag. Die Geschichte des tibetischen Herrschergeschlechts von Tshal Gung thang und der Tshal pa bKa´brgyud pa-Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des Lhasa-Tales in der Zeit des 12.-19. Jahrhunderts. Tibetischer Text in Edition und Übersetzung. Zweite Auflage. VGH Wissenschaftsverlag GmbH, Bonn 2005. ISBN 3882800593
Per K. Sørensen, Guntram Hazod, Tsering Gyalpo:: Rulers on the Celestial Plain. Ecclesiastic and Secular Hegemony in Medieval Tibet. A Study of Tshal Gung-thang. 2 Bde. Wien, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2007. ISBN 978-3-7001-3828-0.
Tetxeditionen:
Tshal-pa Kun-dga´ rdo-rje: Deb-ther dmar-po. Gangtok 1961.
Tshal-pa Kun-dga´ rdo-rje: Deb-ther dmar-po rnams kyi dang-po hu-lan deb-ther mit Kommentar (mchan-´grel) von Dung-dkar Blo-bzang ´phrin-las. Beijing 1981.

Autor: Dieter Schuh, 2010