Tibet-Encyclopaedia

 

Titelseite eines, als Blockdruck veröffentlichten  tibetischen Kalenders aus Lhasa für das Wasser-Schwein Jahr 1923/24

Tibetischer Kalender (lo-tho, le´u-tho)

Der tibetische Kalender (lo-tho oder le'u-tho) ist ein astronomischer, lunisolarer Kalender. Für die tibetische Astronomie war die jährliche, mit dem Sandabakus ausgeführte Errechnung eines Kalenders eine der Hauptaufgaben.

Das tibetische Jahr besteht aus 12 oder 13 Kalendermonaten, die im Prinzip den lunaren Monaten  (tshes-zla) entsprechen und die jeweils grob gesprochen mit dem ersten Tag nach dem Neumond beginnen.

Auf der Grundlage, dass 65 solare Monate (khyim-zla) 67 synodischen bzw. lunaren Monaten entsprechen, wurde regelmäßig alle 32,5 Monate ein Schaltmonat (zla-bshol) hinzugefügt, sodass das tibetische Kalenderjahr im Durchschnitt dem solaren Jahr entspricht.

Bis in die Neuzeit waren in den verschiedenen Regionen Tibets zeitgleich mehrere, unterschiedliche Kalender in Gebrauch. Die Gebräuchlichsten waren die Kalender nach der Kalenderrechnung des Kālacakratantra, der Kalenderrechnung der Phugpa-Schule  und der Kalenderrechnung der Tshurphu-Schule.

Inhaltsverzeichnis

1. Geschichte
2. Jahresanfänge (lo-´go)
3. Kalenderjahr (lo)
4. Kalendermonate (zla-ba)
4.1. Zuordnung der verschiedenen Monatsarten
4.2. Schaltmonate (zla-bshol oder zla-lhag)
5. Tage innerhalb eines Kalendermonats
6. Literatur

1. Geschichte

Während der Zeit der tibetischen Yar-lung Dynastie wurden die Jahre mit den 12 Tiernamen des Ostasiatischen Tierkreiszyklus bezeichnet. Die Monate wurden nach den vier Jahreszeiten bezeichnet und das Jahr begann mit dem Sommer. Die Übersetzung des buddhistischen Kālacakratantra in der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts markierte den Anfang einer vollständigen Änderung des tibetischen Kalenders. Das erste Kapitel dieses Werkes enthielt u. a. die Beschreibung eines indischen astronomischen Kalenders, die Darstellung der Berechnungen der Längen von den Umlaufbahnen der Sonne, Mond und der fünf Planeten Mars, Venus, Merkur, Jupiter und Saturn sowie der Sonnen- und Mondfinsternisse. Nach der buddhistischen Tradition wurden die Inhalte des Kālacakratantra in der ursprünglichen Version von Buddha selbst gelehrt.

Dennoch vergingen mehr als 200 Jahre, bis der Kalender des Kālacakratantra durch den berühmten tibetischen Geistlichen und Herrscher Chögyel Phagpa Lodrö Gyeltshen (chos-rgyal  ´Phags-pa Blo-gros rgyal-mtshan) in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts als der offizielle tibetische Kalender etabliert werden konnte.

Obwohl an diesem Kalender im Laufe der folgenden Jahrhunderte zahlreiche Veränderungen vorgenommen wurden, behielt er sein grundlegenden Charakter als lunisolarer Kalender indischer Herkunft bei.

2. Jahresanfänge (lo-´go)

Während der tibetischen Yar-lung-Dynastie (7. – 9. Jahrhundert) begann das Jahr mit dem Anfang des Sommers.

Seit der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts begann das tibetische zivile Jahr allgemein mit dem 1. Tag des 1. Hor-Monats (Mongolischer Monat). Der Jahresanfang wurde als Lo-gsar (Losar) bezeichnet.

Der Jahresfang der tibetischen astronomischen Zeitrechnung war stets der 3. Hor-Monat bzw. der Nag-zla (Caitra) oder der mittlere Frühlingsmonat.

Es ist aber zu beachten, dass es in Tibet zahlreiche weitere Traditionen zur Festlegung des Jahresanfangs gab, die zur gleichen Zeit nebeneinander verwendet wurden.

Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Jahresanfänge in Tibet nicht mit denen des gregorianischen oder julianischen Kalenders übereinstimmten und von Jahr zu Jahr zeitlich variierten. Wird also festgestellt, dass ein bestimmtes tibetisches Jahr z. B. einem bestimmten Jahr des 19. Jahrhunderts gregorianischer Zeitrechnung entspricht, so ist zu beachten, dass ein solches tibetische Jahr meist im Zeitraum Februar-März des betreffenden gregorianischen Jahres beginnt und im Zeitraum Februar-März des Folgejahres endet.

3. Kalenderjahr (lo)

Hauptartikel siehe Tibetische Zeitmaße

Hauptartikel siehe Tibetische Sechzigjahreszyklen

Es gab in Tibet verschiedene Methoden zur Bezeichnung der Jahre, die bis in die Neuzeit nebeneinander existierten.

Die tibetischen Jahre werden im Allgemeinen mit bestimmten Namen bezeichnet (z.B. Holz-Maus (shing-byi), Maus (byi) oder rab-byung) und werden mit diesen Bezeichnungen in Jahreszyklen eingeordnet, die 12 Jahre oder 60 Jahre umfassen können. Der erste der beiden sechzig Jahre umfassenden Zyklen wurde aus China übernommen. Der zweite Zyklus von sechzig Jahren wurde aus Indien übernommen und mit der Übersetzung des Kālacakratantra (11. Jahrhundert n. Chr.) in Tibet bekannt. Es ist zu beachten, dass die Anfangsjahre der beiden sechzig Jahre umfassenden Zyklen nicht gleich sind. Der Gebrauch des Zwölf-Jahres-Zyklus ist schon für die Zeit der Tibetischen Monarchie (7. – 9. Jahrhundert) belegt. Eine gewisse Zählung von Jahren mit Zahlen kommt dann vor, wenn die Zahl der Jahre angegeben wird, die ab einem bestimmten Ereignis eines Ausgangsjahres (z.B. angenommene Gründung der Tibetischen Monarchie) bis zu einem Zieljahr vergangenen sind.

Auf tibetischem Papiergeld der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachten wir die Verwendung von Kardinalzahlen zur Bezeichnung von Jahren. Die Epoche, also das Anfangsjahr dieser Jahreszählung, ist ein angenommenes Jahr der Gründung der tibetischen Monarchie, nämlich das Jahr 255 n. Chr., dem vermuteten Geburtsjahr des Königs Thothori Nyantsen (tho ris gnyan btsan). Eine Jahresangabe wie 1659 ist als "Jahr 1659 seit der Gründung der tibetischen Monarchie" zu lesen. 1659 entspricht somit in der westlichen Zeitrechnung dem Jahr (1659 + 255 - 1 =) 1913. Die Einführung dieser Jahreszählung stand in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Ausrufung der tibetischen Unabhängigkeit durch den 13. Dalai Lama im Jahre 1912.

Seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts wird auch eine Jahresangabe verwendet, nach der z. B. das Jahr 2009 mit dem tibetischen Jahr 2136 gleichgesetzt wird. Diese relativ moderne Methode der Jahreszählung wird auch als „Bot Gyalo“, besser wäre „Bö Gyello“, (bod rgyal-lo) bezeichnet. Hier hat man das Gründungsjahr der tibetischen Monarchie, das auch hier als Epoche dient, in das Jahr 127 v. Chr. verlegt, welches angeblich das Jahr der Ankunft des Königs gNya-khri btsan-po in Tibet war.

Medaille mit dem Portrait des 14. Dalai Lamas. Inschrift auf dem Avers:rgyal dbang sku phreng bcu bzhi pa rgyal lo 2093 ("Vierzehnter Dalai Lama, rgyal lo 2093 [= AD 1966])". Inschrift auf dem Revers: gangs ljongs rgyal khab chos srid gnyis ldan ("Religiöse und politische Regierung des Schneelandes")

Auf tibetischen Kalendern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und auf tibetischen Münzen findet sich die Verwendung einer "rab -lo" genannten Jahreszählung, deren Epoche das 1. Jahr des 1. Rab-byung-Zyklus ist. Dies entspricht dem Jahr 1027. "Rab-lo" 928 entspricht somit dem Jahr 1954.

Beispiele für moderne tibetische Jahreszählungen:

Jahr (gregorianisch)Anfangsjahr 127 v. Chr.Anfangsjahr 255 n. Chr.Anfangsjahr 1027 n. Chr.
Ab ca. Februar/März 200921361755983
Ab ca. Februar/März 201021371756984
Ab ca. Februar/März 201121381757985
Ab ca. Februar/März 201221381758986

4. Kalendermonate (zla-ba)

Grundsätzlich ist ein tibetischer Kalendermonat (zla-ba) die Zeitspanne zwischen zwei Neumonden. Dies bedeutet, dass in der Regel Neumond am 30. Kalendertag eines Monats stattfindet und Vollmond auf den 15. Kalendertag fällt.

Nach der Definition der tibetischen Astronomie und Kalenderrechnung beginnt ein Kalendermonat mit dem Anfang des natürlichen Tages oder Wochentages, in dem der erste lunare Tag (siehe unten) endet. Er endet mit dem Ende des natürlichen Tages oder Wochentages, in dem der 30. lunare Tag endet. Dies hat zur Folge, dass die Länge des tibetischen Kalendermonats sich an der Länge des synodischen Monats orientiert, von ihr aber verschieden ist.

Die Kalendermonate eines Jahres werden nach den vier Jahreszeiten, nach bestimmten Mondhäusern, den Tiernamen des ostasiatischen Tierkreiszyklus oder mit Ordinalzahlen (Hor-Monate) bezeichnet. Für Details siehe Tibetische Zeitmaße.

4.1. Zuordnung der verschiedenen Monatsarten

In allen tibetischen Kalendern, die in der Tradition der Kalenderrechnung des Kālacakratantra standen, wurde der 1. Monat bzw. der Jahresanfangsmonat des zivilen Jahres, der seit dem 13. Jahrhundert als 1. Hor-Monat bezeichnet wurde, mit dem mChu-Monat gleichgesetzt. Unterschiede ergaben sich in den verschiedenen astronomischen Schulen bezüglich der weiteren Zuordnung der Jahreszeitenmonate und der Monate des Tierkreiszyklus.

   

Die tibetische Aufteilung der Ekliptik, die Sonnenwenden und die zugeordneten Monatsbezeichnungen nach dem Kālacakratantra und der Tshurphu-Schule

 

Die tibetische Aufteilung der Ekliptik, die Sonnenwenden und die zugeordneten Monatsbezeichnungen nach Dragpa Gyeltshen, Phagpa und der Phugpa-Schule

Nach dem Kālacakratantra ist, wie links dargestellt, der mChu-Monat (später auch 1. Hor-Monat) mit dem letzten bzw. 3. Wintermonat gleichgesetzt. Dabei ging das Kālacakratantra davon aus, dass z. B. die Sommersonnenwende mit Eintritt der Sonne in das Tierkreiszeichen karkaṭa (Krebs, Cancer) und die Wintersonnenwende mit Eintritt der Sonne in das Tierkreiszeichen chu-srin (Steinbock, Capricornus) stattfand. Die mittleren Jahreszeitenmonate entsprachen damit den Ereignissen der Sonnenwenden und den Tag-und-Nacht-Gleichen. Zum Beispiel entsprach der 2. Frühlingsmonat der Tag-und-Nacht-Gleiche im Frühling.

Eine Änderung dieser Zuordnung zeichnete sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts zur Zeit des Dragpa Gyeltshen (Grags-pa rgyal-mtshan)  ab, der daraufhin wies, dass nach dem ihm bekannten chinesischen Kalender der mChu -Monat dem 1. Frühlingsmonat entsprach. Eine entsprechende Änderung für den tibetischen Kalender, auf der Abbildung rechts dargestellt, wurde dann von Chögyel Phagpa vollzogen. Der Hintergrund dieser Änderung waren zweifellos auch Messungen der Sonnenwenden nach einer im Kālacakrāvatāra des Abhayākaragupta (1084–1130) beschriebenen Methode. Dabei stellte man fest, dass die Wintersonnenwende genau einen solaren Monat früher stattfand als im Kālacakratantra beschrieben. Das Gleiche traf natürlich auch für die Sommersonnenwende und die Tag-und-Nacht-Gleichen zu. Die Vorverlegung der Jahreszeitenmonate um einen Monat folgte daraus somit konsequenter Weise.

Bezüglich der Zuordnung der Monate des ostasiatischen Tierkreiszyklus findet sich bei Dragpa Gyeltshen, Phagpa und der Tshurphu-Schule die Gleichsetzung von erstem Hor-Monat und Tiger-Monat (stag). Die Phugpa-Schule ging von der Zuordnung von 1. Hor-Monat und Drache-Monat (´brug) aus.

4.2. Schaltmonate (zla-bshol oder zla-lhag)

Da der Zeitraum von zwölf lunaren Monaten grundsätzlich kürzer ist als ein solares Jahr, entsteht im lunisolaren Kalender generell das Problem, diesen Zeitunterschied auszugleichen. Im Tibetischen Kalender wird dieser Ausgleich durch die Hinzufügung von Schaltmonaten (zla-bshol oder zla-lhag) geregelt. Im Laufe des 2. Jahrtausend wurden in Tibet verschiedene Methoden zur Hinzufügung von Schaltmonaten angewendet.

5. Tage innerhalb eines Kalendermonats

Die Tage innerhalb eines Monats im tibetischen Kalender sind grundsätzlich natürliche Tage. Als solche werden sie als Wochentage mit den Bezeichnungen gza' nyi-ma (Sonntag), gza' zla-ba (Montag), gza' mig-dmar (Dienstag), gza' lhag-pa (Mittwoch), gza' phur-bu (Donnerstag), gza' pa-sangs (Freitag) und gza' spen-pa (Samstag) fortlaufend aufgeführt.

Gezählt (nummeriert) werden sie mit Kardinalzahlen. Dies sind stets die Nummern, mit denen die zugeordneten lunaren Tage gezählt werden. Dabei können einige Nummern ausfallen oder gelegentlich zweimal auftreten.

6. Literatur

Alexander Csoma de Körős: A Grammar of the Tibetan Language. Calcutta 1834
Berthold Laufer: The Application of the Tibetan Sexagenary Cycle. T´oung Pao 1913, Vol. 14, S. 569-596.
Winfried Petri: Indo-tibetische Astronomie. Habilitationsschrift zur Erlangung der venia legendi für das Fach Geschichte der Naturwissenschaften an der Hohen Naturwissenschaftlichen Fakultät der Ludwig Maximilians Universität zu München. München 1966.
Paul Pelliot: Le Cycle Sexagénaire dans la Chronologie Tibétaine. Journal Asiatique 1, S. 633-667. Paris 1913.
Dieter Schuh: Untersuchungen zur Geschichte der Tibetischen Kalenderrechnung. Wiesbaden 1973.
Dieter Schuh: Grundzüge der Entwicklung der Tibetischen Kalenderrechnung. Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Supplement II. XVIII. Deutscher Orientalistentag vom 1. bis 5. Oktober 1972 in Lübeck. Vorträge, S. 554-566.
Zuiho Yamaguchi: Chronological Studies in Tibet. Chibetto no rekigaku: Annual Report of the Zuzuki Academic foundation X, S. 77-94, 1973.
Zuiho Yamaguchi: The Significance of Intercalary Constants in the Tibetan Calender and Historical Tables of Intercalary Month. Tibetan Studies: Proceedings of the 5th Seminar of the International Association for Tibetan Studies, Vol. 2, pp. 873-895, 1992.

Autor: Dieter Schuh, 2010