Tibet-Encyclopaedia

 

Abbildung 1: Der Bodhisattva Jampelyang vor dem Wutai Shan

Jampelyang (´Jam-dpal dbyangs, Mañjuśrī) und die Nag-rtsis

Jampelyang (´Jam-dpal dbyangs, Sankrit: Mañjuśrī) gilt als eines der großen Erleuchtungswesen (Bodhisattva) des tibetischen Buddhismus, aber auch des Buddhismus in China und Japan, welche nach der Vorstellung buddhistischer Gläubiger zum Nutzen aller anderen Lebewesen wirken und aus diesem Grunde dem vollständigen Erlöschen im Nirvāņa entsagt haben. In der Geschichte des tibetischen Buddhismus und der tibetischen Wissenschaften spielt Jampelyang als Bodhisattva der Weisheit und Erkenntnis eine besondere Rolle als Lehrer der Sino-tibetischen Divinationen (nag-rtsis), der Geomantie und der gTo-Rituale. Diese Lehren verkündete er auf dem chinesischen Gebirgszug Wutai Shan (Tibetisch Ri-bo rtse-lnga „Gebirge mit den fünf Gipfeln“) einem Gefolge von Göttern und mythischen Heiligen, zu denen auch Konfuzius gehörte. Diese Lehren gewannen insbesondere als Mittel der Zukunftsvorhersage seit dem 17. Jahrhundert unter dem 5. Dalai Lama und seinem Regenten Desi Sanggye Gyatsho (sde-srid Sangs-rgyas rgya-mtsho) für das religiöse Leben in Tibet eine große Bedeutung. Die gesamte Entstehungsgeschichte der Nag-rtsis einschließlich ihres Lehrers Jampelyang ist eine mythologische, religiöse Fiktion, die zur transzendenten Legitimation der Wahrheit der verkündeten Lehren der Nag-rtsis dient.

Inhaltsverzeichnis

1.Quellen
2. Verkündete Lehren
2.1. sPrul-pa´i rgyud „Emanierte Tantra“
2.2. Belehrungen für die vier Bittsteller (zhu-ba-po bzhi)
2.3. Belehrungen für die vier Magier (´phrul-mi bzhi)
2.4. Die vier menschlichen Empfänger der Lehren des Jampelyang (len-pa-po bzhi)
2.5. Die vier chinesischen Halter der Lehre (´chang-ba-po bzhi)
3. Überlieferung von Jampelyangs Lehren nach Tibet
4. Literatur

1.Quellen

Die wichtigste Quelle zu den Aktivitäten von Jampelyang als Lehrer der Nag-rtsis ist der Vaiḍūrya dkar-po des Desi Sanggye Gyatsho (sde-srid Sangs-rgyas rgya-mtsho), ein Kompendium über Astronomie, Astrologie und sonstigen Methoden der Zukunftsvorhersage, dass im 17. Jahrhundert. Als weitere Quellen ist das enzyklopädische Werk bShad-mdzod yi-bzhin nor-bu des Döndam Mawe Sengge (Don-dam smra-ba´i seng-nge) zu erwähnen, das im 15. Jahrhundert verfasst wurde. Die folgende Darstellung folgt im Wesentlichen den Darlegungen des Vaiḍūrya dkar-po.

2. Verkündete Lehren

Die von Jampelyang verkündeten Werke gliedern sich wie die Schriften des buddhistischen Kanons in rGyud (Sanskrit: Tantra) und mDo (Sanskrit: Sūtra), wobei bei den rGyud-Texten zwischen sPrul-pa´i rgyud „emanierte Tantra“,  sPyi-rgyud „Allgemeine Tantra“, gTsug-lag rgyud „Tantra des Wissens“, rTsa-rgyud „Wurzeltantra“, rTsa-rgyud phyi-ma „Spätere Wurzeltantra“ und rTsa-rgyud phyi-ma´i phyi-ma „Nachfolgende der späteren Wunzeltantra“ unterschieden wurden. Daneben finden sich noch einige Kommentarwerke, die als Ṭīka oder ´Grel-pa bezeichnet wurden. Von keinem der im Folgenden genannten Texte ist jemals eine Handschrift zugänglich geworden.

2.1. sPrul-pa´i rgyud „Emanierte Tantra

Die fünf als „Emanierte Tantra“ bezeichneten Werken der Nag-rtsis wurden von Jampelyang auf dem Wutai Shan einem Gefolge von fünf Gruppen (´khor-lnga) gelehrt hat, welche aus Göttern (lha), Schlangendämonen (klu), Titanen (lha ma-yin), den acht Klassen von Geistern (sde-brgyad) und Menschen (mi) bestand.

Die Gruppe von Tantra umfasst folgende Werke: 1. sKu-rgyud snang-gsal sgron-me (Dieses Werk wurde von Jampelyang aus seiner Kopfspitze (spyi-bo) emaniert), 2. gSung-rgyud ´byams-yig chen-mo (Dieses Werk wurde von Jampelyang aus seinem Mund (zhal) emaniert), 3. Thugs-rgyud sdong dgu-´dus (Dieses Werk wurde von Jampelyang aus seinem Geist (thugs) emaniert), 4. Yon-tan dag gi rgyud rdo-rje bdan bzhi  (Dieses Werk wurde von Jampelyang aus seinem Bauchnabel (lte-ba) emaniert), 5. ´Phrin-las dag gi rgyud rus-sbal nag-po (Dieses Werk wurde von Jampelyang aus seiner Hand (phyag) emaniert).

2.2. Belehrungen für die vier Bittsteller (zhu-ba-po bzhi)

Die vier Bittsteller sind vier mythischen Zuhörer des Jampelyang, denen er auf dem Wutai Shan (Ri-bo rtse-lnga) unter anderem die Lehren der Nag-rtsis offenbarte. Es handelt sich hierbei um den vier Gesichter habenden Gott Brahman (Tshangs-pa gdong-bzhi-pa), um die Göttin (lha-mo) rNam-par rgyal-ma, um den Naga-König klu-rgyal ´Jog-po und um den Brahmanen bram-ze Ser-skya.

a)Tshangs-pa gdong-bzhi-pa . Der vier Gesichter habende Gott Brahman.

Abbildung 2: Der Gott Brahman als Bittsteller für die Lehren des Jampelyang auf dem Wutai Shan

Neben dem Ṭīka sNang-gsal ma-bu  wurden ihm auch Belehrungen über Kriegsführung und Waffentechnik sowie über Astronomie erteilt.

b) lha-mo rNam-par rgyal-ma. Eine weibliche Gottheit.

Abbildung 3: Die Göttin  rNam-par rgyal-ma als Bittstellerin für die Lehren des Jampelyang auf dem Wutai Shan 

rNam-par rgyal-ma hat folgende Unterweisungen zur Nag-rtsis empfangen: 1. Rus-sbal rang-´dra´i rgyud, 2. Gi-gong bag-ma´i rtsis (Text über Kalkulationen zur Eheschließung der Sinotibetischen Divinationskalkulationen).

c) klu-rgyal ´Jog-po. König der Klu-Schlangengeister. 

Abbildung 4: Der König der Schlangengeister ´Jog-po als Bittsteller für die Lehren des Jampelyang auf dem Wutai Shan

´Jog-po hat folgende Unterweisungen zur Nag-rtsis empfangen: 1. Rus-sbal gtan-tshigs rang-dran skye-gnas rgyud , 2. rTen cing ´brel-rgyud, 3. rTen cing ´brel-rgyud phyi-ma , 4. lJon-shing lo-´tshol khrus-byang rgyud,  5. Byis-pa btsas-klungs.

c) bram-ze Ser-skya. Ein mythischer Brahmane. 

Abbildung 5: Der Brahmana Ser-skya als Bittsteller für die Lehren des Jampelyang auf dem Wutai Shan

Ser-skya hat folgende Unterweisungen zur Nag-rtsis empfangen: 1.´Byung-ba mtshan-don bstan-pa´i mdo, 2. Yi-ge´i mdo´i ´grel-pa , 3. mTshan gyi don-bstan mdo, 4. Kha-byang bye-brag ´byed-pa´i rgyud.

2.3. Belehrungen für die vier Magier (´phrul-mi bzhi)

„Die vier Magier“ werden auch lha ´phrul gyi rgyal-po „göttliche, magische Könige“ genannt. Dies ist eine aus Gruppe von vier mythischen Zuhörern des Jampelyang. Es handelt sich hierbei um Konfuzius (Kong-tse phrul gyi rgyal-po), Ji-kong, Ji-nong und Wang-the. Der  Vaiḍūrya dkar-po, ordnet aber Konfutius nicht in diese Gruppe ein und lässt den vierten Namen offen. Den vier Magiern wurden von  Jampelyang 360 als rGyud „Tantra“  bezeichnete Texte offenbart, die in die Klassen „Wurzeltantra“ (rtsa-rgyud), „Allgemeine Tantra“ (spyi-rgyud) und Tantra des Wissens“ (gtsug-lag rgyud) aufgeteilt sind.

Die vier Magier sind die folgenden Personen:

a) Kong-tse ´phrul gyi rgyal-po. Der magische König Konfuzius. Neben den 360 als rGyud bezeichneten Texten, die den vier Magiern gemeinsam offenbart worden sind, wurde an Kong-tse das Werk Sa-rgyud bong-mgo ´phrul-bam bdun transmittiert

Abbildung 6: Konfuzius als Empfänger der Lehren des Jampelyang auf dem Wutai Shan 

b) Ji-kong ´phrul gyi rgyal-po. Nach Te-ming Tseng  entweder gleichzusetzen mit Jidian, einem bekannten buddhistischen Mönch der Song-Dynastie, der den Beinamen Jikong hatte, oder mit dem Kaiser You der westlichen Zhou-Dynastie, der auch unter der Bezeichnung Ji Gongsheng 姬宮湦 bekannt ist. Neben den 360 als rGyud bezeichneten Texten, die den vier Magiern gemeinsam offenbart worden sind, wurde an Ji-kong das Werk gShin-rgyud bi-´di ra-chen  transmittiert.

Abbildung 7: Der magische König Ji-kong als Empfänger der Lehren des Jampelyang auf dem Wutai Shan

c) Ji-nong. Nach Te-ming Tseng gleichzusetzen mit Shennong (神農), einem legendären chinesischen Kaiser. Neben den 360 als rGyud  bezeichneten Texten, die den vier Magiern gemeinsam offenbart worden sind, wurde an Ji-nong das Werk ´Byams-yig chen-mo´i ´grel-pa transmittiert.

Abbildung 8: Der magische König Ji-kong als Empfänger der Lehren des Jampelyang auf dem Wutai Shan 

d) Wang-the. Nach Tseng ist er gleichzusetzen mit Huangdi (黃帝/黄帝), dem legendären Vorfahren des chinesischen Volkes. Neben den 360 als rgyud bezeichneten Texten, die den vier Magiern gemeinsam offenbart worden sind, wurden an Wang-the die Werke Kha-bskang byin-brlabs rgyud und lHa-rgyud che-chung transmittiert.

Abbildung 9: Der magische König Wang-the als Empfänger der Lehren des Jampelyang auf dem Wutai Shan 

Folgende Belehrungen wurden den vier Magiern gemeinsam erteilt:

1.Maha nag-po rtsa-ba´i rgyud, 2. ´Jig-rten sgron-me snga-rtags rgyud,  3. rDo-rje gdan bzhi phyi-rtags rgyud, 4. ´Byung-ba don-bstan thugs kyi rgyud, 5. mKha´-´gro rdo-rje gtsug-lag rgyud ,6. Gyim- shang dmigs-sel gson gyi rgyud, 7. Zangs-kyam rin-cen gshin gyi rgyud, 8. A-ru-ta rin dmigs-sel rgyud, 9. Phung-gshig nag-po ngan-thabs rgyud, 10. bZlog-rgyud nag-po gto yi rgyud, 11. ´Byung-ba lnga-brtsegs dbang-thang rgyud, 12 ´Byams-yig chen-mo spyi yi rgyud , Ka-ba dgu-sgril spar-sme´i rgyud, 14. sDong-po dgu-´dus chad-sob rgyud, 15. gSer gyi nyi-ma gi-gong rgyud.

2.4. Die vier menschlichen Empfänger der Lehren des Jampelyang (len-pa-po bzhi) 

Von den vier göttlichen Bittstellern und den vier magischen Königen wurden die Lehren nun an vier Menschen, den sogenannten "Vier Empfängern", weitergegeben. Dies sind also vier mythische chinesische Weise (drang-srong), die die Unterweisungen über die Nag-rtsis von den vier Bittstellern (zhu-ba rnam-bzhi) und den vier Magiern (´phrul-mi bzhi) erhalten haben. Diese vier Weisen sind: drang-srong  bDe-len, drang-srong Nye-bar len, drang-srong Kun tu len und drang-srong Yang-dag len.

   

Abbildung 10: Der Weise (drang-song) bDe-bar len, einer der ersten vier menschlichen Empfänger der Lehren des Jampelyang über Nag-rtsis

 

Abbildung 11: Der Weise (drang-song) Nye-bar len, einer der ersten vier menschlichen Empfänger der Lehren des Jampelyang über Nag-rtsis

   

Abbildung 12: Der Weise (drang-song) Kun tu len, einer der ersten vier menschlichen Empfänger der Lehren des Jampelyang über Nag-rtsis

 

Abbildung 13: Der Weise (drang-song) Yang-dag len, einer der ersten vier menschlichen Empfänger der Lehren des Jampelyang über Nag-rtsis

2.5. Die vier chinesischen Halter der Lehre (´chang-ba-po bzhi oder ´chang-chen bzhi)

Die Halter der Lehren der Nag-rtsis sind vier weitere mythische chinesische Weisen (drang-srong), die die Lehren der Nag-rtsis von den vier Empfängern (len-pa-po bzhi) erhalten haben. Die ´Chang-chen bzhi bestehen aus folgenden Personen: drang-srong lCe-mur, drang-srong Phur-bu, drang-srong Thor-cog und drang-srong Nag-po. Bilder von diesen sind nicht überliefert.

3. Überlieferung von Jampelyangs Lehren nach Tibet

Während des Zeitraums, den wir als die Epoche des tibetischen Großreiches bezeichnen, das ist die Zeit zwischen dem 7. und 9. Jahrhundert, wurden nach der tibetischen Tradition, die im Vaiḍūrya dkar-po dargestellt wurde, eine große Zahl dieser auf Jampelyang zurückgehenden Texte und nachfolgende Werke ins Tibetische übersetzt. Keiner dieser angeblich übersetzten Texte ist heute erhalten bzw. auf uns überliefert. Der große lamaistische Gelehrte Thu´u kwan Blo-bzang chos kyi nyi-ma (18. Jahrhundert) hatte möglicherweise recht, wenn er sagte:

„Die alten Tibeter haben eine Kette von Lügen erzählt, als sie erklärten, dass die Nag-rtsis auf dem Wutai shan in China gelehrt wurde…. Die Divinations-Tantras, die in Tibet bekannt sind und die angeblich von aus dem Chinesischen ins Tibetische übersetzt wurden, existieren nicht in China, auch nicht dem Namen nach. Ich denke, sie sind von den Tibetern geschrieben worden.“

Die Rückführung der in Tibet verbreiteten Lehren der Nag-rtsis auf Jampelyang diente einzig und allein der Legitimation der Wahrheit ihrer Inhalte.

4. Literatur

Don-dam smra-ba´i seng-ge: bShad-mjod yid-bzhin nor-bu. A 15th Century Tibetan Compendium of Knowledge edited by Lokesh Chandra with an introduction by E. Gene Smith. New Delhi 1969.
Gyurme Dorjee: Tibetan Elemental Divination Paintings. Illuminated manuscripts from The White Beryl od Sangs-rgyas rGya-mtsho with the Moonbeams treatise of Lo-chen Dharmaśrī. John Eskenazi Ltd., London 2002. ISBN 0953994104
Shen Yu Lin: Mi pham´s Systematisierung von gTo-Ritualen. International Institute for Tibetan and Buddhist Studies Halle 2005. ISBN 3882800712 Ngag-dbang: sNgon med-pa'i bstan-bcos chen po vaiḍūrya dkar-po las 'phros-pa'i snyan-sgron nyis-brgya brgyad-pa (Blockdruck)
sde-srid Sangs-rgyas rgya-mtsho: Phug-lugs rtsis kyi legs-bshad mkhas-pa'i mgul-rgyan vaidur dkar-po'i do-shal dpyod-ldan snying-nor (Blockdruck)
sde-srid Sangs-rgyas rgya-mtsho: bsTan-bcos vaiḍūrya dkar-po las dri-lan 'khrul-snang g.ya'-sel don gyi bzhin-ras ston-byed (Blockdruck)
Dieter Schuh: Über die Möglichkeit der Identifizierung tibetischer Jahresangaben anhand der sMe-ba dgu. Zentralasiatische Studien des Seminars für Sprach- und Kulturwissenschaft Zentralasiens der Universität Bonn, 6, 1972, S. 485-504.
Dieter Schuh: Die Darlegungen des 5. Dalai Lama Ngag-dbang blo-bzang rgya-mtsho zur Kalkulation der neun sMe-ba. Zentralasiatische Studien des Seminars für Sprach- und Kulturwissenschaft Zentralasiens der Universität Bonn, 7, 1973, S. 285-299.
Dieter Schuh: Der Chinesische Steinkreis. Ein Beitrag zur Kenntnis der Sino-tibetischen Divinationskalkulationen. Zentralasiatische Studien des Seminars für Sprach- und Kulturwissenschaft Zentralasiens der Universität Bonn, 7, 1973, S. 353-423.
Te-ming Tseng: Sino-Tibetische Divinationskalkulationen (Nag-rtsis) dargestellt anhand des Werkes dPag-bsam ljon-šing von Blo-bzang tshul-khrims rgya-mtsho. International Institute for Tibetan and Buddhist Studies, Halle 2005. ISBN 3882800704

Autor: Dieter Schuh, 2011. Abbildungsnachweis: Alle Abbildungen stammen aus einem Blockdruck des Vaiḍūrya dkar-po.