Tibet-Encyclopaedia

 

Tibetische Kosmographie

Der Aufbau der Welt nach der tibetischen Astronomie. Die Größen von Sonne und Mond sind nicht maßstabsgerecht dargestellt

Die Tibetische Kosmographie ist eine in Tibet verbreitete Beschreibung des Aufbaus unserer Welt und des Weltalls.Sie gehört zu den Grundlagen der tibetischen Astronomie und beruht auf den Darlegungen im Kālacakratantra.

In den verschiedenen buddhistischen Traditionen Tibets werden weitere, von der Tradition der tibetischen Astronomie (skar rtsis) im Detail abweichende Weltbeschreibungen überliefert. Eine systematische Erforschung dieser Beschreibungen liegt noch nicht vor.

Inhaltsverzeichnis

1. Erdaufbau
2 Die Sonnenbahn
3. Fixsterne und Planeten
4. Geographie der Erdoberfläche
5. Die Welt als Lebensraum von Göttern, Menschen, Tieren, Geistern und Höllenbewohnern
6. Weitere tibetische Konzepte des Weltaufbaus
7. Literatur

1. Erdaufbau

Unsere Welt, die nach buddhistischen Vorstellungen nur eine unter vielen ist, ruht im Leeren. 
Die Erde wird als Halbkugel vorgestellt, deren Radius 200.000 dpag-tshad (ca. 2.900.000 km) groß ist. Sie besteht aus vier Kugelschalen, die jeweils 50.000 dpag tshad (ca. 725.000 km) dick sind und materialmäßig aus einem der Elemente Luft, Feuer, Wasser und Erdreich bestehen. Hierbei bildet die Luft die äußere Halbkugel, auf die Feuer, Wasser und der aus Erde bestehende Kern folgen.

Aus der ebenen Schnittfläche dieser Halbkugel ragt inmitten des aus Erde bestehenden Kerns der 100.000 dpag-tshad (ca. 1.450.000 km) hohe, runde Weltberg (ri-rab, lhun-po) empor. Der Weltberg besitzt an der Basis einen Durchmesser von 16.000 dpag-tshad (ca. 232.000 km) und verbreitert sich zum Gipfel, wo er einen Durchmesser von 50.000 dpag-tshad (725.000 km) besitzt.

 

   

Vereinfachte 3D Darstellung des tibetischen astronomischen Weltbilds. Die abgeschlossene Region unterhalb des Weltbergs und die als Kopf dargestellte Region über dem Weltberg wurde weggelassen.

 

Der Aufbau der Welt nach der tibetischen Astronomie von oben gesehen. Der grüne Kreis kennzeichnet die belebte Welt

Der äußeren Gestalt nach ähnelt der Weltberg fünf ineinander gesetzten Messingschüsseln (rag-sder), so dass fünf Kanten entstehen, die als Hörner oder Spitzen bezeichnet werden und die sich wie der 1000 dpag-tshad (ca. 14.500 km) breite Sockel um den Berg herumziehen.

Über dem Weltberg, der von Göttern bewohnt wird, befindet sich eine weitere Götterregion, die 100.000 dpag-tshad (ca. 1.450.000 km) hoch ist. Sie wird der Form nach mit einem Kopf verglichen und entsprechend nach Hals (25.000 dpag-tshad), Gesicht (50.000 dpag-tshad) und Haarknoten (25.000 dpag-tshad) aufgeteilt. Unter Einschluss dieses Bereichs beträgt die vertikale Erstreckung 400.000 dpag-tshad und ist somit gleich der horizontalen Erstreckung. Jedenfalls ist damit dieser Bereich des Weltgebäudes eine Vollkugel.

Für einen Beobachter auf der Nordhalbkugel der Erde ist offenkundig, dass die täglichen Höchststände der Sonne im Zeitraum Sommer bis Winter abnehmen und im Zeitraum Winter bis Sommer zunehmen.

Die tibetische Astronomie trägt diesem Umstand dadurch Rechnung, dass sie zwischen einer Nordbewegung (byang-'gros) und einer Südbewegung (lho-'gros) der Sonne unterscheidet. Die Zeitpunkte der Änderungen dieser beiden Bewegungsarten werden als Sonnenwenden (nyi-ldog) bezeichnet. Der Nord- und Südbewegung der Sonne entspricht eine Veränderung der Längen von Tag und Nacht. Während der Nordbewegung der Sonne nimmt die Länge der lichten Tage zu, bis sie zum Zeitpunkt der Sommersonnenwende ihr Maximum erreicht. Mit der Südbewegung geht eine Vergrößerung der zeitlichen Länge der Nächte einher, die zum Zeitpunkt der Wintersonnenwende ihr Maximum erreicht. Von besonderem Interesse für die tibetische Astronomie waren die Zeitpunkt der Tag- und -Nachtgleiche (nyin-mtshan mnyam-pa) im Frühling und Herbst.

Das Kālacakratantra berücksichtigt dieses Phänomen dadurch, dass es im Rahmen der Beschreibung des Weltaufbaues für die Höchst- und Tiefststände der Sonne konkrete Zahlenwerte angibt. Zur Zeit der Sommersonnenwende steht die Sonne nahe am Weltberg und besitzt eine Höhe von 86.000 dpag-tshad (ca. 1.247.000 km) über der Erdoberfläche. Im Winter steht die Sonne direkt über der Grenzlinie von Wasser und Feuer und hat eine Höhe von 75.000 dpag-tshad (ca. 1.087.500 km). Die Höhe zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche wird mit 80.500 dpag-tshad (ca. 1.167.250 km) angegeben.

Die Frage, wie bei diesem Weltmodell die tägliche Bahn der Sonne um den Weltberg verläuft, beschäftigte die tibetischen Astronomen intensiv. Grundlage für diese Beschreibung der Sonnenbahn war wiederum das Kālacakratantra, welches eine geodätische Aufteilung der Erdoberfläche beschreibt, nach der der Erdoberfläche in zwölf gleich große Sektoren (dum-bu) eingeteilt wird.

Tatsächlich entsprechen diese Sektoren der Projektion von senkrecht zum Himmeläquator verlaufenden Großkreisen auf die Erdoberfläche und bilden damit zusammen mit 6 konzentrischen Kreisringen, die um den Weltberg verlaufen, ein Koordinatensystem zur Beschreibung des wahren Sonnenortes zu einem beliebigen Zeitpunkt.

Das Kālacakratantra zählt den Sektor, in dem sich der Südkontinent befindet, mit der Nummer 1 und führt die Nummerierung der übrigen Sektoren im Uhrzeigersinn fort. Zusätzlich weist das Kālacakratantra ausdrücklich darauf hin, dass die Länge des Tages in dem Sektor mit der Nummer n gleich der Länge der Nacht im Sektor n + 6 ist.

Die tibetischen Astronomen schlossen daraus konsequenter Weise, dass sich somit für die verschiedenen Sektoren verschiedene Jahreszeiten ergeben müssen. Anders gesprochen bedeutet dies, dass wenn z. B. im 1. Sektor die Sommersonnenwende stattfindet, sich im 7. Sektor eine Wintersonnenwende ergibt. Im Ergebnis folgt hieraus eine Variation der Jahreszeiten nach der geographischen Länge, also in der Ost-West Erstreckung.

Dies entspricht nicht den Gegebenheiten in der Wirklichkeit, was aber von den tibetischen Astronomen nie überprüft wurde. Die tibetischen Astronomen entwickelten verschiedene Methoden, den Verlauf der täglichen Sonnenbahn zu konstruierten. Eine dieser Konstruktionen wird im Vaiḍūrya dkar-po erläutert. Dabei steht die Beschreibung der Tagesumläufe der Tierkreiszeichen im Vordergrund. Erreicht die Sonne durch ihre Eigenbewegung gegen den Uhrzeigersinn und ihre Nord-Südbewegung eines der 12 Tierkreiszeichen, folgt sie dessen täglichem Umlauf.

Besonders eindrucksvoll sind überlieferte Darstellungen der verschiedenen Tagbögen der Sonne auf tibetischen Wandbildern.

 

   

Tagbögen der Sonne für alle 12 Tierkreiszeichen nach einem tibetischen Wandbild

 

 

Schematische Darstellung (gestrichelt, schwarz) der geometrischen Orte der Sonne für drei Tagesumläufe nach dem Vaiḍūrya dkar po (1685): Die Darstellung bezieht sich auf die folgenden ekliptikalen Position der Sonne: Sonne in Widder (lug), Sonne in Stier (glang) und Sonne in Zwillinge ('khrig pa). Die verzeichneten Positionen der Tierkreiszeichen ergeben ein sehr eigentümliches Modell der Struktur der Ekliptik (hier rot eingezeichnet).

3. Fixsterne und Planeten

Während sich die Fix-Sterne über die ganze Himmelshalbkugel verteilen, die sich im Uhrzeigersinn angetrieben durch einen Treibwind einmal pro Tag um den Weltberg dreht, besitzen Sonne, Mond und Planeten zusätzlich eine Eigenbewegung (rang-'gros) die bewirkt, dass sich diese Himmelskörper mit unterschiedlicher Geschwindigkeit zusätzlich gegen den Uhrzeigersinn um den Weltberg bewegen.

Die Bahn, auf der sich alle diese im Vergleich zum Fixsternhimmel beweglichen Himmelskörper bewegen, ist die Ekliptik, d.i. die Projektion der scheinbaren Bahn der Sonne im Verlauf eines Jahres auf die Himmelskugel. Die Ekliptik wird aufgeteilt in die zwölf Tierkreiszeichen (khyim) und die 27 Mondhäuser (rgyu-skar), die insofern für die rechnende Astronomie die Bedeutung von Winkelmaßen haben.

Daneben haben die Tierkreiszeichen in Hinblick auf die Zeiten ihres Aufgangs am östlichen Horizont (dus-sbyor) eine astrologische Relevanz und werden mit Symbolen dargestellt. Die astrologische Bedeutung der Mondhäuser ergibt sich daraus, dass sie als bestimmbare Sternkonstellationen mit bestimmten Göttern identifiziert werden. Letzteres gilt auch für die beweglichen Himmelskörper, also Sonne, Mond, die fünf Planeten, die Mondbahnknoten und den Kometen Encke.

Sonne, Mond, die fünf Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn, die Mondbahnknoten sowie der Komet Encke zählen in Tibet zu den Himmelskörpern (gza'-bcu; „zehn Planeten“), deren Bewegung gegenüber dem Fixsternhimmel durch mathematische Berechnungen erfasst wurden. Auch diese Himmelphänomene zählten zu den göttlichen Wesen und wurden teilweise deshalb auch entsprechend bildlich dargestellt.

nyi ma Sonnezla ba Mondlhag pa Merkurpa sangs Venusmig dmar Marsphur bu Jupiter
Tibetan God The Sun.jpgTibetan God of the Moon.jpgMercury as a Tibetan God.jpgVenus as a Tibetan God.jpgMars as a Tibetan God.jpgJupiter as a Tibetan God.jpg
spen pa Saturnsgra gcan Mondbahnknoten "Gesicht"mjug ma Mondbahnknotendu ba mjug rings Komet Encke
Saturn as a Tibetan God.jpgMoon knot Rahu as a Tibetan God.jpgKeine Abbildung vorhandenKeine Abbildung vorhanden

4. Geographie der Erdoberfläche

Unter Erdoberfläche wird in Tibet der Bereich der Schnittfläche der oben beschriebenen Halbkugel verstanden, der vom Sockel des Weltberges bin zum Ende des Bereichs des Feuers reicht. Um den Weltberg gruppieren sich sieben Kontinente (tib.: gling bdun), d.s. als konzentrische Ringe angeordnete sieben Länder, sieben Ozeane und sieben Ringgebirge. Die ersten sechs dieser „Kontinente“ liegen unter dem Weltberg und sind dadurch, dass das sechste Ringgebirge bis zur 5. ringförmigen, spitzenartigen Ausbuchtung des Weltberges hinaufreicht, so von der übrigen Außenwelt abgeschlossen, dass in ihnen weder die Sterne, noch die Sonne oder die übrigen Planeten sichtbar sind. Es herrscht dort ewige Dunkelheit.

Liste der sechs Länder, Ozeane und Gebirge (von Innen nach Außen):

LandÜbersetzungOzeanÜbersetzungBergketteÜbersetzung
zla-ba glingMond-Kontinentsbrang-rtsi'i rgya- mtshoHonig-Ozeanmandara riMassiger Berg
'od-dkar glingWeißer Glanz-Kontinentmar gyi rgya-mtshoButter-Ozean'od sngon riBerg des blauen Glanzes
kusha glingGras-Kontinentzho'i rgya-mtshoYoghurt-Ozeannishaṭṭa riNishaṭṭa-Berg
mi-'am-ci glingKontinent der Kinnara (Wesen mit Pferdekopf und Menschenkörper)'o-ma'i rgya-mtshoMilch-Ozeannor bu 'od riBerg des Glanzes der Edelsteine
khrung-khrung glingKranich-Kontinentchu'i rgya-mtshoSüßwasser-Ozeandroṇa riTrog-Berg
drag-po glingKontinent der Zornigenchang gi rgya-mtshoRauschtrank-Ozeanbsil riKälte-Berg

Der siebte Kontinent beginnt mit einen 25.000 dpag-tshad (ca. 362.500 km) breiten Ring, welcher als Großer Rosenapfel-Kontinent ('dzam-bu gling chen-po) oder als Region der karma bezeichnet wird und bezeichnet den Teil der Welt, in dem Menschen und Tiere leben.

In diesem Bereich befindet sich südlich des Weltberges ein sogenannter kleiner Kontinent, der die Form eines Dreiecks hat und der Kleiner Rosenapfel-Kontinent ('dzam bu gling chung-ba) genannt wird. Eine Seite dieses dreieckigen Kontinents grenzt an den Kälte-Berg während die Spitze nach Süden ragt und 12.500 dpag-tshad (ca. 181.250 km) vom Kälte-Berg entfernt ist.

In diesem kleinen Rosen-Apfelkontinent befinden sich von Norden nach Süden sechs Länder, nämlich Schneeland (Gangs-ldan), Shambhala, China (rGya-nag), Khotan (Li-yul), Tibet (Bod) und Indien (´Phags yul).

Der siebte Ozean (rgya-mtsho bdun-pa), auch als Salzozean (lan-tshva'i mtsho) bezeichnet, wird mit der Schnittfläche der aus Wasser bestehenden Halbkugelschale gleichgesetzt. Die siebte Bergkette, Vajra-Berg (rdo-rje'i ri) wird in dem Bereich der aus Feuer bestehenden Erdschale lokalisiert.

In dem Bereich des großen Rosenapfel-Kontinents befinden sich im Westen, Norden und Osten des Weltberges weitere sogenannte kleine Kontinente, von denen der westliche Kontinent die Gestalt eines Vierecks, der Nördliche kreisförmig ist und der östliche die Gestalt eines Halbkreises hat.

5. Die Welt als Lebensraum von Göttern, Menschen, Tieren, Geistern und Höllenbewohnern

Eingangs wurde beschrieben, dass nach dem tibetischen Weltbild die Mondhäuser und Planeten als Götter die belebte Welt umkreisen.

Über dem Weltberg befindet sich eine Region, die die Gestalt des Kopfes eines Menschen hat und die von Göttern bewohnt wird. Generell werden die Lebewesen dieser Welt in 31 Arten von Wesen unterteilt, die in drei Klassen nach Daseinsformen (srid-pa) unterteilt werden.

Die erste Klasse umfasst die Götter, die durch Gestaltlosigkeit (gzugs-med) charakterisiert sind. Sie teilt sich wiederum in vier Gruppen auf. Die zweite Klasse umfasst Götter, die im Bereich des Gestalthaften (gzugs-khams) leben. Sie umfasst 16 Götterarten. Diese zwanzig Gruppen von Göttern leben in 20 vertikal angeordneten Daseinsbereichen, die vom Haarschopf bis zum Hals des Kopfes über dem Weltberg reichen.

Die dritte Klasse von Lebewesen wird als solche charakterisiert, die Begierden ('dod-pa) haben und die 11 Gruppen umfassen. Zu dieser Klasse zählen zunächst sechs Gruppen von Begierden haben Götter ('dod-pa'i lha). Vier von diesen Götterarten sind vier vertikal im Hals befindliche Bereiche zugeordnet. Die fünfte dieser Götterarten lebt auf dem Weltberg, während die sechste im Weltberg beheimatet ist.

Die restlichen Begierden haben Wesen umfassen insbesondere die Menschen, Tiere, Schlangengeister (klu), Titanen (lha-ma-yin). Die obere Hälfte des aus Erde bestehenden Kerns dieser Welt teilt sich in zwei Teile, die von den Titanen und Schlangengeistern bevölkert werden. Darunter erstrecken sich 7 Bereiche der Hölle.

6. Weitere tibetische Konzepte des Weltaufbaus

Die hier beschriebene Struktur des Weltaufbaus ist charakteristisch für die Lehren des Kālacakratantra und der in dieser Tradition stehenden tibetischen Astronomie. Gleichwohl finden sich in der Masse der überlieferten tibetischen buddhistischen Literatur weitere Beschreibungen des Weltaufbaus, die im Detail von der Tradition des Kālacakratantra abweichen. Systematische Untersuchungen hierzu liegen nicht vor. Als Beispiel sei nachfolgend ein Rollbild aus Bhutan vorgestellt, in dem der Weltberg in der Form eines Hexagramms und die Ringkontinente als Vierecke dargestellt werden.

7. Literatur

Winfried Petri: Indo-tibetische Astronomie. Habilitationsschrift zur Erlangung der venia legendi für das Fach Geschichte der Naturwissenschaften an der Hohen Naturwissenschaftlichen Fakultät der Ludwig Maximilians Universität zu München. München 1966
Dieter Schuh: Untersuchungen zur Geschichte der Tibetischen Kalenderrechnung. Wiesbaden 1973
sde-srid Sangs-rgyas rgya-mtsho: Phug-lugs rtsis kyi legs-bshad mkhas-pa'i mgul-rgyan vaidur dkar-po'i do-shal dpyod-ldan snying-nor (Blockdruck)

Autor: Dieter Schuh, 2010. Bildnachweise: Darstellungen der Welt mit Weltberg von Daniel Kränert (Halle). Bhutanesisches Rollbild nach   http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bhutanese_thanka_of_Mt._Meru_and_the_Buddhist_Universe.jpg?uselang=de  

Bhutanesisches Rollbild:

 

Aufbau der Welt nach einem bhutanesischen Rollbild